Ingeborg Reichle spricht in Basel (CH) über die Kunst am Ursprung

Am 17. September 2020 wird Ingeborg Reichle im Kontext des interdisziplinären Workshops Die Gegenwärtigkeit der Urzeit: Bilder und Visionen prähistorischen Lebens vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert an der Universität Basel (CH) über die Rezeption prähistorischer Kunst in der Kunsttheorie um 1900 sprechen. Die Veranstaltung wird von Brigitte Röder (Universität Basel) und Jutta Teutenberg (Ludwig-Maximilians-Universität München), sowie dem  Fachbereich Ur- und Frühgeschichtliche und Provinzialrömische Archäologie der Universität Basel ausgerichtet.

In ihrem Vortrag Kunst am Ursprung: Zur Rezeption prähistorischer Kunst in der Kunsttheorie um 1900 wird Ingeborg Reichle darüber referieren, auf welche Weise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Wissenschaften damit beginnen, sich der Erforschung der Ursprünge der menschlichen Kunst und Kultur zu widmen. Die Suche nach den Anfängen menschlicher Kunstfertigkeit, welche die Forscher auf die spärlichen Funde und Relikte der Vor- und Frühgeschichte projizieren, ist geprägt von den unterschiedlichen Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts, die zwischen tradierten jüdisch-christlichen Glaubensvorstellungen und evolutionistischen Erklärungsmodellen oszillieren. Um 1900 ist die Forschung überwiegend von der Grundannahme einer langsamen und kontinuierlichen evolutionären und kulturellen Entwicklung des Menschen bestimmt, die fortschrittslogisch von den einfachsten Anfängen bis zu höchst komplexen Formen des Lebens führt. Die Vorstellung, dass die Entwicklung jeder Kultur die gleichen Stadien durchlaufen müsse, führt dazu, das die Anfänge der eigenen „Hochkultur“ sowohl in den als roh, einfach und gleichförmig imaginierten Kulturen außereuropäischer indigener Kulturen als auch in den Funden und Objekten aus dem urzeitlichen Europa gesucht werden.

Die Kunst wird auf der Suche nach den Ursprüngen der menschlichen Kultur zu einer virulenten Projektionsfläche und in der Folge in höchst unterschiedlich konstruierte Theoriegebäude eingespannt. Frühe Anthropologen – wie zum Beispiel der Brite John Lubbock, der mit seinen Schriften Prehistoric Times (1865) und The Origin of Civilization (1870) dem viktorianischen England die Vor- und Frühgeschichte nahebringt oder der französische Altsteinzeitforscher Gabriel de Mortillet, der 1883 die Schrift Le Préhistorique antiquité de l’homme vorlegt und für Jahrzehnten die Vorstellung des französischen Publikums von der Urzeit prägen wird – beschreiben die Menschen des Paläolithikums als überaus roh – tief verstrick im Kampf um’s Dasein – halb Mensch halb Tier. Diese als einfach skizzierten Menschen der Vor- und Frühgeschichte verfügen über keinerlei religiöses oder symbolisches Denken und sind somit auch nicht zu einem kreativen oder künstlerischen Ausdruck fähig. Die Vorstellung von einer engen Verknüpfung, bzw. Bedingung von Kunst und Religion hat zur Folge, dass aus dem Paläolithikum stammende menschliche Artefakte nicht als Kunstwerke bewertet werden, sondern als reine Dekoration, selbst wenn diese in den Augen der Betrachter des 19. Jahrhunderts als höchst ästhetisch erscheinen und in aufwändigen Prachtbänden publiziert werden.

Auch als 1878 die ersten Höhlenmalereien im spanischen Altamira entdeckt und in europäischen Gelehrtenkreisen bekannt werden, ist es der überwiegenden Mehrheit der Forscher nicht möglich, die Menschen des Paläolithikums als deren Urheber anzuerkennen. Insbesondere jene Forscher können dies nicht, die von einer anti-klerikalen Weltanschauung getragen werden und Religion nicht als ein intrinsisches Merkmal der menschlichen Spezies erachten. Erst als in Frankreich Gräber aus der Zeit des Paläolithikums entdeckt werden und Autoren wie der Brite Edward B. Tylor und die beiden Schotten John Ferguson McLennan und James George Frazer Theorien zu Animismus, Totemismus und Magie vorlegen und auch „primitiven“ Kulturen, bzw. frühen Gesellschaftsformen religiöse Ausdrucksformen zusprechen, ändert sich die Vorstellung, die man sich von der Kunst- und Bildfähigkeit der Menschen des Paläolithikums macht. Der entscheidende Katalysator jedoch, der dazu führt, den Status sowohl der Höhlenmalereien als auch von portablen Artefakten aus der Zeit des Paläolithikums zu überdenken und diese als „Kunst“ zu bewerten, ist eine neue Strömung innerhalb der sich um 1890 rasch transformierenden Kunsttheorie. Diese neue Strömung führt zu einem erweiterten Kunstbegriff: nun wird auch dekorative Kunst als Kunst bewertet und die zuvor stets eng gezogene Grenzlinie zwischen Kunstgewerbe und „hoher“ Kunst aufgeweicht. Zudem kann Kunst nun durchaus einem sozialen, bzw. übergeordneten Zweck dienen. Neben dem Entstehen dieses erweiterten Kunstbegriffs ist auch die Tatsache von Bedeutung, dass anthropologische und ethnologische Studien Einfluss auf ästhetische Theorien gewinnen, welche die Anfänge der Kunst und der menschlichen Kreativität zunehmend einschließen. Die Transformation des Kunstbegriffs um 1900 führt zu einer Neubewertung der Malereien, Zeichnungen und portablen Artefakte des Paläolithikums als „Kunst“ und wertet zudem auch die Malereien und Artefakte indigener Völker zunehmend als „Kunst“. Dies wird insbesondere deutlich in Publikationen wie Die Anfänge der Kunst (1894) des deutschen Philosophen und Ethnologen Ernst Grosse, The Origins of Art (1900) des schwedisch-finnischen Philosophen und Ästhetiker Yrjö Hirn oder L’Art et la magie (1903) des französischen Kunsthistorikers und Religionswissenschaftlers Solomon Reinach. Im Jahr 1900 lässt der deutsche Kunsthistoriker Karl Woermann schließlich sein dreibändiges Werk Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker (1900-1922) mit der Abbildung eines Faustkeils beginnen und vermutet, dass die „Kunst im Sinne der Kunstgeschichte ein Erbgut der ganzen Menschheit ist; sie ist ein geistiges Band, das selbst die entlegendsten Zeiten und Völker umschlingt. Von nur geahnten Entwickelungsstufen abgesehen, gibt es keine zeitlich so weit zurückliegende, keine örtlich so weit entfernte Kulturstufe, daß sie nicht durch irgend einen Lichtstrahl der Kunst, die den Menschen vom Tiere unterscheidet, erleuchtet würde.“

Dem interdisziplinären Workshop Die Gegenwärtigkeit der Urzeit: Bilder und Visionen prähistorischen Lebens vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert liegt folgendes Konzept zu Grunde: Darwins Evolutionstheorie, die Entdeckung fossiler Menschenfunde und nicht zuletzt archäologische Artefakte mit eingeritzten Zeichnungen ausgestorbener Tiere nährten im 19. Jahrhundert die wachsenden Zweifel am biblischen Geschichtsbild, das die Menschheitsgeschichte mit der Schöpfung beginnen ließ und ihr eine Dauer von rund 6000 Jahren zuschrieb. Galten bis dahin Adam und Eva als das erste Menschenpaar, stellte sich die Frage nach der eigenen Herkunft nun grundlegend neu. Mit zunehmender Akzeptanz der Evolutionstheorie wurden jetzt namenlose Urmenschen zu Vorfahren, deren materielle Hinterlassenschaften akribisch gesammelt wurden und den Grundstock vieler Museen bildeten.

Doch die Artefakte in den Vitrinen blieben stumm und boten keinen unmittelbaren Zugang zu den Menschen, die sie hergestellt und benutzt hatten. Hinzu kam ein „ikonisches Vakuum“ – das heißt, die Absenz authentischer Bild-Zeugnisse prähistorischer Menschen von ihrem Leben. Als Reaktion auf dieses Vakuum entstanden Illustrationen in literarischen oder wissenschaftlichen Texten, künstlerische Bildwerke, Dioramen und Rekonstruktionen für Weltausstellungen oder Museen und nicht zuletzt die ersten Stummfilme. All diese Medien füllten die Leerstelle und schlugen eine Brücke zu den Vorfahren, indem sie – vermeintlich – die Lebensbedingungen prähistorischer Menschen zur Anschauung brachten.

Vor diesem Hintergrund kann die intensive Auseinandersetzung mit den Vorfahren des modernen Menschen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreichte und sich bis heute fortsetzt, von Beginn an als der Versuch einer stetigen Annäherung in Bildern verstanden werden. Doch je stärker sich die Akteure dieses Diskurses darum bemühten, objektive Schilderungen bzw. Visualisierungen der Lebensbedingungen prähistorischer Menschen zu erzielen, desto weiter entfernen sie sich von ihrem eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Denn sie rekonstruierten keine ehemaligen Realitäten, sondern schufen immerzu Projektionsflächen, die auf vielschichtige Weise Verschränkungen von Vergangenheit und Gegenwart zur Anschauung bringen. Aufgrund dieser Verschränkungen ist die „Urzeit“ nicht abgeschlossen, sondern permanent gegenwärtig. Rückgriffe auf sie erfüllen stets gesellschaftliche Funktionen. Dazu gehört die Legitimation sozialer Konzepte, beispielsweise des bürgerlichen Geschlechter- und Familienmodells, dessen „Ursprünglichkeit“ bzw. „Natürlichkeit“ behauptet wird, oder auch Selbstaffirmation durch die Veranderung („othering“) der Urmenschen.

Ziel des Workshops ist es, mit der Bildgeschichte des Urmenschen das Phänomen der Gegenwärtigkeit der Urzeit für den Zeitraum vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert auszuleuchten. Konkret sollen dafür Visionen prähistorischen Lebens in ihren unterschiedlichen Facetten adressiert werden. Ein wichtiges Thema wird in diesem Zusammenhang die „Eigenmacht“ der Bilder sein, die den Diskurs nie passiv begleiteten, sondern immerzu aktiv mitgestalteten. Auch die Frage nach ikonischen Bildern und ihrer Traditionslinien wird zu stellen sein. Des Weiteren sind die vielschichtigen Abhängigkeiten der Bilder von den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnissen und Theorien, von den jeweils gültigen gesellschaftlichen Konventionen und nicht zuletzt von weltanschaulichen Konzepten von Interesse. Zu Letzteren gehören Vorstellungen vom Ur- und Naturzustand, in dem die Urmenschen verortet werden, und der deshalb die seit dem 19. Jahrhundert so virulente Frage zu beantworten scheint: „Woher kommen wir?“ Die Antwort auf diese Frage – so die leitende Prämisse des Workshops – ist deshalb so elementar, weil sie immer eng verbunden ist mit der Bestandsaufnahme „Wer sind wir?“ bzw. der Zukunftsvision „Wohin gehen wir“. Wie diese Fragen heute beantwortet werden, hat eine Vorgeschichte, zu der die Bildgeschichte des Urmenschen im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen Zugang eröffnet.

Vortragen werden Marc-Antoine Kaeser, Jutta Teutenberg, Ingeborg Reichle, Stephan Cartier, Patrick Stoffel, Markus Klammer, Ulrich Pfisterer, Patricia Purtschert, Brigitte Röder, Anita Dettwiler, Dani Pelagatti, Jan Sabri Cetinkaya, Philipp Kohl sowie Anne D. Peiter.

Workshop Gegenwärtigkeit der Urzeit_CFP

Programm

Donnerstag, 17.09.2020

13:00-13:30 Brigitte Röder/ Jutta Teutenberg Begrüßung / Ein Leitfaden im 19. Jh./20. Jh. und heute: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?

„Urzeit rekonstruieren und nachfühlen“

13:30-14:30 Marc-Antoine Kaeser: Pfahlbauten, 19.-20. Jh. – die Verbreitung einer visuellen Vorstellung der heimischen Vorzeit

14:30-15:30 Jutta Teutenberg: Bilder und Visionen von Urzeit, die durch Nachmachen/Nachahmen der Urmenschen erzeugt wurden (Arbeitstitel)

15:30-16:00 Kaffee / Pause

„Urmensch wild oder zivilisiert? Kunst und biblische Vorstellungen (Adam und Eva)“

16:00-17:00 Ingeborg Reichle: Kunst am Ursprung: Zur Rezeption prähistorischer Kunst in der Kunsttheorie um 1900

17:00-18:00 Stephan Cartier (Zoom/Audio): Ein Portrait des Künstlers als Höhlenmensch

18:00-19:00 Patrick Stoffel: Franz Ungers “Die Urwelt in ihren verschiedenen Bildungsperioden” von 1851

19:00-20:30 Abendessen

Ab 20:30 Markus Klammer: 3D-Filmvorführung: “Die Höhle der vergessenen Träume” (Regie Werner Herzog)

Freitag, 18.09.2020

„Urzustände der Welt und des Körpers“

9:00-10:00 Ulrich Pfisterer: Körperfantasien und Urmenschen (Arbeitstitel)

10:00-11:00 Patricia Purtschert: Die konstitutive Verschränkung von Ur- und Naturzustand in der Philosophie der Moderne (Arbeitstitel)

11:00-11.30 Pause / Kaffee

„Neue Bilder des Urmenschen/ Ein konstantes Überdenken/ Zeitgenössische Perspektive aus der Ur- und Frühgeschichte“

11:30-12:30 Brigitte Röder, Anita Dettwiler, Dani Pelagatti: Befremdliche Fremdheit: Doch keine Menschen wie du und ich? (Arbeitstitel)

12:30-14:00 Pause / Mittagessen

14:00-15:00 Jan Sabri Cetinkaya: Visuelle Narrationen und narrative Strukturen in Lebensbildern

„Der Blick in die Urzeit und die Frage: Was kommen wird/ Urzeit und Zukunft“

15:00-16:00 Philipp Kohl: Poetische Zukunftspaläontologien: Russische Urzeitlyrik im langen 19. Jahrhundert

16.00-16.30 Pause / Kaffee

16:30-17:30 Anne D. Peiter (Zoom) (Zeitverschiebung: 2 Stunden vor MEZ): Troglodyten des atomaren Zeitalters. Zur Rückkehr der Urgeschichte in science- fiktionalen Kriegsszenarien

17:30-18:00 Brigitte Röder/ Jutta Teutenberg: Ausblick / Abschied

18:00-19.00 Apéro